Berlin ist in! Deutschlands Hauptstadt entwickelt sich geradezu atemberaubend schnell zum angesagten Zentrum der Republik. Der gute alte Kiez, wo es rau aber herzlich zuging und wo die Berliner Kotterschnauze das Regiment führte, fällt der fortschreitenden Gentrifizierung zum Opfer und sogenannte Szeneviertel entstehen, in denen die angestammten Milieus verschwinden.
Emil, Erna und Atze im „Aus“
„Ick stehe uff da Brücke.
Und spuck" in’n Kahn,
Da freut sich de Spucke,
Det se Kahn fahren kann.“
Dieser alte Berliner Kinderreim würde wohl heute nicht mehr entstehen können. Nicht nur, weil eine solche Idylle niergendwo mehr aufzufinden ist, in der Emil und Klein-Erna gedankenversunken in einen Kahn spucken können – auch, weil die Urberliner Vornamen samt der Spitznamen wie Atze, Bolle oder Keule zugunsten neuer und besonderer Vornamensschöpfungen weitestgehend im Vornamen-Nirvana verschwunden sind. Das beschäftigt nicht nur den alteingesessenen Berliner, sogar Experten der Humbold-Universität und Kenner der Bibel beschäftigen sich mit den neuen Berliner Vornamen.
Die neuen Berliner Vornamen
Bibelfeste Nutzer öffentlicher Netzwerke führen Matthäus 19:14,15 an: „Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Und legte die Hände auf sie und zog von dannen.“
Den Heiland interessierten die Vornamen der Kindlein nicht die Spur – aber uninteressant im Gelobten Land Gottes heißt noch lange nicht uninteressant in Berlin-Mitte! Alle Ecken stehen dort unter einem dramatischen Gentrifizierungsverdacht – eine besonders heikle Situation für die Urberliner.
Die haben ohnehin ein tiefes Misstrauen gehen all die Neuerungen in ihrem Kiez entwickelt, sodass eine relativ kleine Mitteilung der ansässigen Kirchengemeine verschiedener Vornamen wegen zu einem regelrechten Shitstorm führte. Denn im Kirchenblatt „Das Kirchenfenster“ waren die aktuellen Tauflisten veröffentlicht worden – wie es Tradition ist.
Comeback des alten Adels
Gut zwei Dutzend Christen hatten in der Golgatha-, Zions- und Sophienkirche ihre Kinder taufen lassen. Niemand erwartete, dass die Kleinen dort Hinz und Kunz heißen sollen, aber dass so viel vermeidlich „blaues Blut“ in Mitte unterwegs ist, verblüffte die Rezipienten der Taufliste schon sehr. Viele der Nachnamen zeugen von adliger Herkunft, auch bei den verbuchten Vornamen ist ein Hang zum Erlesenen nicht von der Hand zu weisen: Leonore Anna Maria Chiara, Ada Mai Helene, Rufus Oliver Friedrich oder auch Frederick Theodor Heinrich klingt schon nach was …
Entsprechend wurde die Liste kommentiert: So erkannte ein User wenig charmant „einen ziemlicher Überhang des Buchstaben ,a’ im Fürstentum Mitte“, dazu passe „albern, affig und Arschgeigen“.
Andere stellten ebenfalls das „das Comeback alter Adelsgeschlechter in Berlin-Mitte“ fest und wiegelten
gleichzeitig ab, denn die Apollonias und Taras sollen ja später mal die Rente
bezahlen.
Zu denen spontanen Missfallensbekundungen lieferten Wissenschaftler bald ein Fundament:
In den „Nachrichten zur Stärkung von Stadtteilmobilisierungen und Mieter/innenkämpfen“ des Instituts für
Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität erschien der Beitrag: „Berlin: Am Taufbecken der Gentrification
– Kirche im Aufwertungsgebiet“.
Die Liste ist wie ein Mix aus einem Verzeichnis gehobener Beamter und einer FDP-Wahlliste zu lesen, schreibt der Autor. Der wahre Sinn der Gentrifikation - die Rückkehr niederen Landadels in die Städte - bekommt mit den neuen Berliner Vornamen einen unerwarteten Realitätsgehalt.
Berlin bleibt doch Berlin
Neben Amalia Liv Louise und Benedikt Morton Max spielen allerdings auch in Berliner Registern mehr oder weniger unprätentiöse Vornamen die überwiegende Rolle: Bei den Mädchen sind Hanna, Emma, Charlotte, Miaund Emilia, bei den Jungen Elias, Finn, Maximilian, Lucas und Noah die Favoriten.
Beachtenswert ist übrigens auch die kleine, in Berlin-Tempelhof geborene Berlinerin Berlin. Das Amtsgericht erklärte den Vornamen ebenso wie London als eintragungsfähig, zumal es Paris Hilton gibt und der Name Berlin in den USA recht weit verbreitet ist.
Demnach ist zu wünschen: Berlin bleibt doch Berlin …